Der Superschurke Ancel Keys
Der amerikanische Präsident Eisenhower erlitt am 26. September 1955 einen Herzinfarkt. Diese Nachricht war damals so schockierend, dass die Aktienmärkte an einem Tag über 6% verloren, was dem größten Kursrutsch seit dem Zweiten Weltkrieg entsprach.
Obwohl der amerikanische Präsident von den damals führenden Kardiologen betreut wurde, kamen in den Folgejahren weitere Infarkte hinzu. Er verstarb im Jahr 1969 an Herzversagen, da sich die Pumpfunktion seines Herzens über die Jahre immer weiter verschlechterte.
Chronische Erkrankungen nehmen zu
Die Krankengeschichte des Präsidenten lenkte den Blick der Öffentlichkeit auf die Herzgesundheit unserer westlichen Gesellschaft. Zwischen 1900 und 1950 explodierte förmlich die Prävalenz von Herz-Kreislauferkrankungen in den Vereinigten Staaten.
Menschen mittleren Alters fielen auf der Straße tot um, und niemand konnte ein Erklärungsmodell für die vielen Herzerkrankungen liefern. Ancel Keys war damals der strahlende Retter im weißen Kittel, der die Erklärung für die verängstigte Gesellschaft bereithielt. Dachte die Welt zumindest...
Seine Ernährungs-Herz-Hypothese (Diet-Heart-Hypothesis) gab dem Fett aus tierischen Nahrungsmitteln die Schuld an der Zunahme der Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Auswirkungen von Keys' Hypothese spüren wir noch 70 Jahre später. Die Reduktion gesättigter Fettsäuren kennzeichnet noch heute eine gesundheitsbewusste und "gefäßschonende" Ernährung. Nicht nur auf dem amerikanischen Kontinent folgen Menschen heutzutage dieser Empfehlung, ohne sie groß zu hinterfragen.
Aber wie hat sich die Gesundheit unserer Gesellschaft über das letzte Jahrhundert entwickelt? Chronische Erkrankungen nehmen stetig zu, seitdem wir tierische Fette zunehmend durch Kohlenhydrate und pflanzliche Öle ersetzen. Heute leiden über 60% der amerikanischen Bevölkerung an einer chronischen Erkrankung, was einem 700%igen Anstieg verglichen mit Daten aus 1935 entspricht (*,*). Chronische Erkrankungen umfassen neben Herz-Kreislauf-Erkrankungen auch andere Organsysteme. Dazu zählen beispielsweise Krebs, Demenz, Nierenerkrankungen und Diabetes mellitus. Insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten beobachteten Wissenschaftler eine Beschleunigung bei der Entwicklung chronischer Erkrankungen. So stieg der Anteil der Menschen, die an mehr als einer chronischen Erkrankung leiden, zwischen 2000 und 2010 von 16% auf 21% (*). Bereits 2014 waren es 32% (*). Heute sind es 40% (*).
Überspitzt formuliert, gab Ancel Keys den Menschen mit seiner Hypothese einen Freifahrtschein, ihre Pommes jeden Tag in Ketchup zu tränken, solange das Fleisch vom Teller geschoben wird. Hunderte von Millionen Euro wurden seitdem mit dem Ziel investiert, seine Diet-Heart-Hypothese zu untermauern. Sie wird heute jedoch von der Wissenschaft zunehmend in Frage gestellt, da immer mehr Studien zeigen, dass eine Reduktion von tierischen Fetten keine Reduktion von Herz-Kreislauf-Erkrankungen nach sich zieht (*,*).
Dennoch singen bis heute sämtliche Instanzen Loblieder auf die gesundheitsförderlichen Eigenschaften einer fettarmen, pflanzlichen Ernährung. In Deutschland wird eine Ernährung empfohlen, die reich an ungesättigten Fettsäuren (z.B. aus Rapsöl) ist, wenig Fleisch und viel Getreide enthält (*).
Unsere empfohlene Ernährungspyramide hat eine Basis aus Getreiden und Pflanzenölen. Das ist paradox, schließlich kennt die Menschheit Getreide erst seit 12.000 Jahren und Pflanzenöle erst seit 100 Jahren (*).
Saatenöle (z.B. Sonnenblumenöl, Rapsöl) existieren erst seit 100 Jahren (*). Das ist im evolutionären Kontext ein Wimpernschlag.
Wie kam es dazu?
Die Verteufelung der gesättigten Fettsäuren tierischer Herkunft entsprang Keys' Beobachtung, dass Cholesterin als Ablagerung in arteriellen Plaques gefunden wurde. Cholesterin ist das verteufelte Molekül, welches insbesondere in fettigen tierischen Produkten enthalten ist. Der im Volksmund als "Arterienverkalkung" bezeichnete Prozess engt mit der Zeit die Gefäße ein und kann im Verlauf zu fatalen Ereignissen wie Herzinfarkten und Schlaganfällen führen. Auf den ersten Blick ist Keys' Vermutung naheliegend: Da arterielle Plaques Cholesterin enthalten und tierische Produkte Cholesterin enthalten, schlussfolgerte Keys, dass der Konsum tierischer Fette zu Herzerkrankungen führt.
Keys verbrachte einen Großteil der 50er Jahre damit, seine Theorie mit Studien zu untermauern. Die berüchtigtste Studie war die sogenannte 'Seven Countries Study', die 12.800 Männer mittleren Alters aus Italien, Griechenland, Jugoslawien, Finnland, den Niederlanden, Japan und den Vereinigten Staaten einbezog.
Die Daten zeigten die von ihm gesuchte Korrelation zwischen gesättigten Fettsäuren und Herzerkrankungen. Wie man in der Grafik sehen kann, haben die Länder mit höherem Fettkonsum auch höhere Raten an Herzinfarkten. Die Welt hatte zu diesem Zeitpunkt einen Durst nach Erklärung, weshalb Männer mittleren Alters einfach tot auf der Straße umfielen, und Keys' Erklärung konnte ihn endlich stillen.
Unehrlichkeit
Im Jahr 1957 wurde eine umfassendere Einsicht in die Seven Countries Study gegeben. Dabei kam heraus, dass Keys absichtlich Länderdaten ignorierte, die seiner Hypothese widersprachen. So fanden beispielsweise Frankreich, Chile und die Schweiz keine Beachtung - alles Länder, in denen hohe gesättigte Fettmengen konsumiert wurden, ohne dass bemerkenswerte Raten von Herzinfarkten beobachtet worden waren. Keys hat damit ein in der Wissenschaft häufig anzutreffendes Fehlverhalten an den Tag gelegt: Rosinenpickerei.
Wenn lang ersehnte Erklärungen zur richtigen Zeit auf eine ratlose Gesellschaft treffen, ist es, als ob ein Samen im Frühjahr auf fruchtbarem Boden landet. Er keimt aus, und seine Wurzeln reichen bald sehr tief. Keys' Hypothese wurde als neue Wahrheit anerkannt, bevor sie eingehend überprüft werden konnte.
Zur Senkung des gesellschaftlichen Cholesterinlevels begann die American Heart Association (AHA) 1961 mit der Empfehlung, Butter durch Margarine zu ersetzen und tierische Fette zu meiden. Daran konnten auch Eisenhowers erneute Herzinfarkte und sein Tod nichts ändern, obwohl er sich streng nach den neuen Ernährungsempfehlungen seiner Kardiologen richtete. Der Nagel im Sarg der tierischen Fette war die Senatsverabschiedung der Ernährungspyramide über das Landwirtschaftsministerium im Jahr 1970.
Der Aufstieg der Saatenöle
Abgesehen von dem damaligen öffentlichen Bedürfnis nach Erklärungen für den Anstieg der Herzerkrankungen gab es noch weitere Faktoren, die die rasche Aufnahme von Keys' Theorien in die politische Agenda und die westlichen Ernährungsempfehlungen erleichterten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelang es der Firma Procter & Gamble (P&G), Baumwollsamen, die bis zu diesem Zeitpunkt als toxisches Abfallprodukt der Baumwollproduktion galten, in ein Speiseöl zu verarbeiten. Das klassische amerikanische Bratfett 'Crisco' wurde dann ab 1911 als Alternative zu Rinderschmalz vermarktet. P&G brachten Crisco mit brillianten Werbekampagnen in die überwiegende Mehrheit der amerikanischen Haushalte. Auch die AHA begann das Produkt sowie andere Saatenöle ab 1960 zu empfehlen, da diese die Fähigkeit besaßen, den Cholesterinspiegel zu senken.
Saatenöle müssen mit aufwändigen chemischen und energieintensiven Prozessen gereinigt werden und können nicht wie Schmalz oder Butter einfach vom Landwirt produziert werden. Aus diesem Grund führte der Aufstieg der Saatenöle zu enormen Profiten für große Lebensmittelkonzerne. Die Vermutung, dass die Empfehlungen im Interesse der Industrie waren, Saatenöle als einen Grundpfeiler unserer westlichen Standardernährung zu etablieren, erscheint nicht zu weit hergeholt.
Der Konsum tierischer Fette nimmt über die letzten Jahrzehnte kontinuierlich ab und wird durch mehrfach ungesättigte Fettsäuren aus Pflanzenölen ersetzt. Hier exemplarisch durch Palmölkonsum dargestellt (*).
Crisco ist das von Procter & Gamble eingeführte Bratfett, das einen kometenhaften Aufstieg in den Vereinigten Staaten in den 50er Jahren erfuhr.
Der Nachweis fehlt
Obwohl die Diet-Heart-Hypothese zu Beginn nachvollziehbar klang und durch Keys' Veröffentlichung zunächst untermauert wurde, war eine Bestätigung durch zusätzliche Studien erforderlich. Bis heute wurden öffentliche Forschungsorganisationen mit Milliarden USD ausgestattet, um die Hypothese mit Studien zu belegen. Zählt man die bisher untersuchten Studienteilnehmer insgesamt zusammen, kommt man auf bis zu 53.000 Probanden. Das Resultat: Tierische Fettsäuren scheinen die Rate der Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht zu erhöhen. (*).
In einem beeindruckenden Fall bisher ignorierte wissenschaftlicher Arbeit fand die "Minnesota Coronary Study" bei über 10.000 Probanden keine Verbindung zwischen gesättigten Fettsäuren und Herzerkrankungen (*). Obwohl diese Studie bereits 1968 durchgeführt wurde, dauerte es knapp 40 Jahre, bis Wissenschaftler unveröffentlichte Rohdaten reevaluierten und zu einem erstaunlichen Schluss kamen (*):
- In der Gruppe mit niedrigerem Konsum tierischer Fette fanden die Wissenschaftler eine Reduktion des Cholesterins von 14%
- Aber: Es wurde eine erhöhte Sterblichkeit von 22% je 30 mg/dl Cholesterinsenkung gefunden.
Neben der Tatsache, dass diese Informationen über einen langen Zeitraum unveröffentlicht blieben, gibt es eine weitere amüsante Erkenntnis bei genauerer Betrachtung: Ancel Keys war einer der Leiter der Originalstudie.
Weitere Studien, die keine Verbindung zwischen tierischen Fetten und kardiovaskulären Erkrankungen finden, sind Teile der sogenannten "Framingham Studie", die ebenfalls erst im letzten Jahrzehnt an die Öffentlichkeit gelangten. Von neun weiteren separaten Reviewartikeln konnte kein einziger nachweisen, dass gesättigte Fettsäuren einen Effekt auf kardiovaskuläre Mortalität oder die Gesamtmortalität haben. Die Wissenschaftler schlussfolgern in diesen Studien explizit, dass die Ernährungsrichtlinien der Regierung bzw. der American Heart Association, gesättigte Fettsäuren zu reduzieren, keinen Rückhalt in der Forschung finden. (*) Eine gute Zusammenfassung der Literatur zu dem Thema findet sich in einem aktuellen Review Artikel von Valk, Hammill und Grip (2022)(*).
Industrieinteressen
Diese neuen Erkenntnisse werden von der American Heart Association (AHA) bisher ignoriert. Dass sich die AHA trotz dieser Studienergebnisse dagegen wehrt, ihre Position hinsichtlich tierischer Fette anzupassen, könnte ganz einfach in ihrer unerschütterlichen Überzeugung liegen, die sie über Jahrzehnte propagierte. Überzeugungen werden nicht einfach so abgelegt.
Oder es könnte mit der seit langem bestehenden Abhängigkeit der AHA von Sponsorengeldern aus der Industrie zusammenhängen. Ironischerweise wurde die AHA im Jahr 1948 durch einen 17 Millionen USD Zuschuss von Procter & Gamble ins Leben gerufen. Man muss aber gar nicht so weit in die Vergangenheit zurückblicken, um offensichtliche Interessenkonflikte innerhalb der AHA aufzudecken. Erst kürzlich sagte die Firma Bayer der AHA Zuschüsse von 500,000 USD zu. Bayer ist im Besitz der Firma LibertyLink Soybeans, und Sojaöl ist das am meisten konsumierte Öl in den USA. (*) Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Geldflüsse zwischen Nahrungsmittelkonzernen und medizinischen Institutionen, die Ernährungsempfehlungen veröffentlichen, sind kein Einzelfall. Viele Nahrungsmittel- und auch Pharmafirmen sind Geldgeber der AHA oder der American Diabetes Association (siehe Abbildungen unten). Es gibt heute zehn übergeordnete Dachfirmen, denen fast die gesamte Nahrungsmittelindustrie der Welt gehört. Es wäre naiv zu glauben, dass diese Firmen ihre finanziellen Mittel nicht einsetzen würden, um ein für sie günstiges Geschäftsfeld zu erzeugen.
Genauso offensichtlich ist auch, dass eine Ernährungsempfehlung, die Fleisch, Butter und Eier vorsieht, nicht im Interesse der Nahrungsmittelkonzerne ist. Denn hierbei handelt es sich bereits um fertige Produkte vom Landwirt, ohne dass Verarbeitungsprozesse notwendig wären. Es stellt sich die Frage, wie unsere Ernährungsempfehlungen wohl aussähen, hätten Landwirte die gleichen finanziellen Mittel wie die Nahrungsmittelindustrie, um ihre Interessen in Politik und Medizin geltend zu machen.
Firmen aus Nahrungsmittelindustrie und Pharmaindustrie sind Sponsoren der Organisationen, die unsere Ernährungsempfehlungen entwickeln (*). Der Interessenskonflikt ist offensichtlich.
Heute sind 10 Firmenkonglomerate Inhaber fast aller Nahrungsmittelproduzenten. Diese Firmen haben die Möglichkeit, ihr eigenes Geschäftsfeld durch Lobbyarbeit zu beeinflussen.
Fazit
Aus medizinischer Sicht erleben wir einen Anstieg chronischer Erkrankungen, für die es im historischen Kontext keinen Vergleich gibt – seien es steigende Trends bei Übergewicht, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder mentalen Erkrankungen. Auch wenn unsere schulmedizinischen Behandlungsmethoden die Konsequenzen dieser Erkrankungen immer raffinierter therapieren, versagen wir im Bereich der primären Prävention.
Erkenntnisse aus den letzten zehn Jahren deuten darauf hin, dass unsere bisherigen Ernährungsempfehlungen weniger auf guten wissenschaftlichen Standards, sondern vielmehr auf Geltungssucht einzelner Akteure und industriellen Interessen fußen.
Sollten die medizinischen Institutionen an ihren liebgewonnenen Überzeugungen trotz des wachsenden wissenschaftlichen Widerspruchs festhalten, droht ein Vertrauensverlust. Ein solcher Vertrauensverlust hätte gerade im medizinischen Kontext destruktive Auswirkungen. Schließlich fußt eine erfolgreiche Therapie immer auch auf einem vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnis, in welchem der Patient seine Gesundheit in die Hände des behandelnden Arztes legt.